Vom Kinderheim zur modernen Kinder- und Jugendhilfe von heute

Hier könnt ihr/können Sie die Geschichte des Sybelcentrums von Beginn an, von 1913 bis ca. 2017 nachlesen. Die Historie stammt aus unserem "Besser zusammen." - Magazin. Die gesamte Ausgabe ist hier zu finden (link).


Das Gebäude erzählt

Ich bin froh, dass ich jetzt auch einmal zu Wort kommen darf. Denn immerhin kann ich am meisten erzählen. Woher ich so viel weiß? Na, über die vielen Jahrzehnte sind viele, viele Menschen durch meine Räume gegangen. Und dabei wurde oft etwas zu meiner Planung, meinem Zustand als Gebäude oder zu meiner Nutzung gesagt. Vieles von dem, was ich hier schildere, ist ausführlich in der Schriftenreihe des Stadtarchivs Karlsruhe Bd. 4 „Heimerziehung in Karlsruhe – von der Waisenanstalt zum Kinder- und Jugendhilfezentrum“ von Katja Förster nachzulesen.

Dass ich gebaut wurde, verdanke ich den vielen Kindern und Säuglingen ohne Familie, für die es Anfang des letzten Jahrhunderts im Zuge der Industrialisierung keinen Platz mehr gab.

Aber das muss ich näher erklären:
Schon lange vor meiner Planung wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Karlsruher Waisenhaus eröffnet, für das die Karlsruher Bevölkerung damals „um milde Beiträge für den Bau eines Waisenhauses“ gebeten wurde. Und zu Beginn der 1870er-Jahre eröffnete das „Städtische Armenpfründnerhaus“ in der Zähringerstraße seine Pforten. Ursprünglich nur für die Versorgung armer, alter und gebrechlicher Menschen gedacht, diente das Armenpfründnerhaus alsbald auch zur Aufnahme von Kindern, die keine Bleibe hatten und obdachlos waren. Diese Kinder waren nur noch selten Waisenkinder, sondern vielmehr „Sozialwaisen“. Zerrüttete Arbeiterfamilien (Niedriglohn, Arbeitslosigkeit, Prostitution, Straftaten) trieben die Kinder in die Verwahrlosung und auf die Straße. Ledige ungewollt schwangere Frauen oder Männer, deren Frauen gestorben waren, gaben die Kinder dort ab. Diese Kinder sollten soweit möglich an eine Pflegestelle auf dem Land vermittelt werden und solange im Armenpfründnerhaus bleiben.

Wenn ich so auf meine Geschichte als Gebäude schaue, war das der Anfang der Inobhutnahme, wie sie heute noch in meinen Räumlichkeiten in den Gruppen Mika, Haus Noah und Noah 2 stattfindet.

Durch die wachsende Armut und die dramatisch steigenden Aufnahmezahlen im „Kinderpflegehaus des Armenpfründnerhauses“ sorgte der Städtische Armen- und Waisenrat mit einem Beschluss im Frühjahr 1911 dafür, dass ein Städtisches Kinder- und Säuglingsheim geplant und gebaut wurde. So entstand ich.

Die Planungen für mich und auch das Gelände, auf dem ich entstand, waren großzügig konzipiert. All diese Pläne hat Stadtbaudirektor Friedrich Beichel erstellt. Und der Stadtrat suchte für den Bau das Grundstück Ecke Wiesenstraße (heute Stuttgarter Straße) und Sybelstraße aus. Die Lage an der Peripherie des damaligen Stadtgebietes schien passend. Für mich als Gebäude schrieb der Stadtrat dem Städtischen Hochbauamt vor, dass Platz für mindestens 120 Kinder unterschiedlichen Alters (30 Säuglinge, 40 Kleinkinder bis vier Jahre, 50 Kinder bis 14 Jahre) geschaffen werden musste. Das hieß es mussten Tages- und Schlafräume für die Kinder, Schwesternzimmer, Wirtschaftsräume und sonstige Räume geplant werden. Und dann sollte noch Platz für eine abschließbare Isolierabteilung vorhanden sein.

Architektonisch orientiert am berühmten Residenzbaumeister Friedrich Weinbrenner ließ Stadtbaudirektor Friedrich Beichel auch den damals aktuellen Baustil mit einfließen, den „Jugendstil“. Und heute stehe ich aus diesem Grund unter Denkmalschutz, was mich durchaus ehrt! Was, wie ich mitbekomme, aber in der heutigen Zeit Renovierungsarbeiten, die ich inzwischen dringend brauche, kompliziert und auch teuer macht.

Am 16. September 1913 wurde ich eröffnet. 68 Kinder zogen mit 5 Schwestern unter der Leitung einer Oberschwester ein. Dann begann im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg und im Juli 1915 lebten in meinen Räumlichkeiten 160 Kinder und Säuglinge. Nach dem Krieg sank die Zahl meiner jungen Bewohner wieder ein bisschen, sie blieb aber immer noch an der Grenze zur Überlastung. Deshalb fassten 1925 der Stadtrat und das Städtische Fürsorgeamt den Beschluss, dass ich noch einen Anbau erhalten sollte. 1927 war dieser neue Seitentrakt fertig.

Dort kam die Säuglings- und Kinderpflege hin, ausgestattet mit dem sogenanntem Glasboxensystem. Die Trennwände zwischen den einzelnen Zimmern bestanden weitgehend aus Glas, um alle Säuglinge und Kleinkinder gleichzeitig im Blick zu haben. Damit entsprach die Ausstattung damals einem sehr modernen Standard. In dieser Zeit war die Zahl der Säuglinge und Kleinkinder bei mir sehr hoch. Das führte dazu, dass in meinen Räumlichkeiten junge Frauen zu Säuglings- und Kinderpflegerinnen ausgebildet wurden. Schon 1922 übernahm die Stadt die „Säuglingspflegerinnenschule“, die dadurch zu einer staatlich anerkannten Einrichtung wurde. Heute wird dieser Trakt überwiegend von der Augartenschule genutzt. Der Geist der Schule hat sich in den Räumen über die vielen Jahre gehalten und in der Nutzung durchgesetzt.

Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre beherbergte ich zwischen 180 und 200 Kinder und Säuglinge. Inzwischen war ich in Karlsruhe umgangssprachlich als „Sybelheim“ bekannt. In den 1930er-Jahren waren nicht mehr nur (Säuglings-)Schwestern und Ärzte als Fachkräfte tätig, sondern auch Kindergärtnerinnen und eine Jugendleiterin.

Gleich in den ersten Tagen nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 wurde die Zwangsräumung des Städtischen Kinder- und Säuglingsheims angeordnet. Kaum waren die Kinder und Säuglinge mit dem Pflege- und Aufsichtspersonal weg, wurde aus mir ein „Kameradschaftsheim“ der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt. Das war keine angenehme Zeit! Die neuen Bewohner machten vieles mutwillig kaputt. Ich war erleichtert, als im Frühjahr 1940 wieder die Stadt Karlsruhe die Zuständigkeit übernahm. Und im Juli wurde ich in meiner Ursprungsfunktion als Städtisches Kinder- und Säuglingsheim wieder eröffnet – und war natürlich gleich wieder voll belegt. Ich hatte inzwischen im Keller Luftschutzräume, aber die waren für die hohe Anzahl meiner Bewohner im Frühsommer 1941 nicht mehr ausreichend. Und im Sommer 1942 fand eine 2. Evakuierung statt. Meine Räumlichkeiten sollten für den Katastrophenfall als Hilfskrankenhaus zur Verfügung stehen. Aber dann wurde ich im letzten Kriegsjahr 1945, wie viele andere Gebäude in Karlsruhe, bei einem Fliegerangriff von Bomben getroffen. In meinem Südflügel wurden die Glasboxen, die inzwischen als Quarantänezimmer gedient hatten, zerstört.

Nach Kriegsende wurden meine noch funktionierenden Räume von der städtischen Hauptverwaltung für die Nutzung als Krankenhaus freigegeben, erst im Mai 1946 kamen die Kinder wieder zurück – allerdings nur in den Ursprungsbau von 1913. Der südliche Anbau wurde weiterhin bis zum Frühjahr 1949 als Krankenhaus genutzt. Später zog dort das Stadtjugendamt ein und erst 1955 wieder aus. Die Stadt sorgte dann aber für Renovierung und Instandsetzung meiner arg gebeutelten Räume und auch für den Ersatz des notwendigen Inventars für 175 Kinder. In den Jahren bis Ende der 1960er-Jahre habe ich zwar viele An- und Umbauten oder auch Renovierungs- und Instandhaltungsarbeiten erlebt. Aber die Struktur der Räume für die Kinder blieb bis dahin ziemlich unverändert.

Es gab für die Kinder große Tages- und Schlafräume. So standen in einem Schlafraum zeitweise bis zu 50, meistens aber 30 bis 40 Betten. Mädchen und Jungen waren getrennt untergebracht. Die Abteilungen wurden durch den gemeinschaftlich genutzten großen Saal im Erdgeschoss getrennt. Das waren also große Gruppen von Kindern, die zusammen schliefen und betreut wurden. Soweit ich das in Erinnerung habe, wurden die Kinder vom städtischen Fürsorgeamt – später Jugendamt – in das Heim gebracht. Den rechtlichen Hintergrund bildete das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1924 – 1962). Dieses Gesetz hatte einen ordnungspolitischen Fokus, keinen pädagogischen. Es wurde darin weniger von „Kinderheim“ und „Kindern“ gesprochen. Meistens wurde von der „Anstalt“ gesprochen und von „Zöglingen“. Die Organisation der Anstalt war auf einen möglichst reibungslosen Betrieb ausgerichtet und nicht auf das einzelne Kind bzw. den einzelnen Zögling. Dementsprechend war die Heimstruktur autoritär- hierarchisch ausgerichtet. Und Disziplin bildete beim Umgang mit diesen großen Gruppen einen wichtigen Bestandteil.

Die Mehrheit des Personals war nicht pädagogisch ausgebildet, wie der folgende Überblick über die im Heim Beschäftigten von 1963 zeigt:

  • 1 Oberin
  • 1 Heimarzt, 23 Kranken- und Kinderschwestern
  • 1 Jugendleiterin, 3 Kindergärtnerinnen, 8 Kinderpflegerinnen
  • 3 Schwesternschülerinnen
  • 6 Helferinnen
  • 9 Hausangestellte
  • 18 Arbeiterinnen und 2 Arbeiter

Von 1962 bis 1990 galt das Jugendwohlfahrtsgesetz. Es war zwar weiterhin als Behördengesetz konzipiert, zeigte aber neue Formen der Erziehungshilfe.

1963 wurde erstmals eine 3-jährige Erzieherausbildung angeboten. Zur gleichen Zeit entstand die 3-jährige Ausbildung plus Anerkennungsjahr an „höheren Fachschulen für Sozialpädagogik und Sozialarbeit“ und daraus später der dementsprechende Studiengang an Fachhochschulen. Erst Mitte bzw. Ende der 1960er-Jahre wurden also pädagogische Fachkräfte ausgebildet, die bis heute mit den Kindern und Jugendlichen arbeiten.

1967 beauftragte der Erste Bürgermeister Wäldele einen Untersuchungsausschuss zu Fragen der Heimerziehung bezogen auf das Städtische Kinder- und Säuglingsheim. Im Ergebnis wurde die Bedeutung der Sozialpädagogik für die pädagogische Arbeit in einer solchen Einrichtung anerkannt und darauf hingewiesen, dass die Betreuungsstruktur in einem Heim dementsprechende Qualifikationen aufweisen muss. Auch wurde auf die Bedeutung einer individuellen Betreuung durch Psychologen hingewiesen. Außerdem wurden kleine Wohneinheiten empfohlen mit Einbett-, Zweibett- und Dreibettzimmern, einem eigenen Wohnzimmer, Küche, Bad und Toilette, in denen bis zu neun Kinder mit ihren Erziehern leben sollten.

Im Sommer 1969 wurde ein städtischer Ausschuss für die bauliche Neugestaltung des Kinderheims gebildet. Im Rahmen der Umbaumaßnahmen wurde für den zukünftigen Heimleiter, ein Sozialarbeiter und seine Familie eine Wohnung im 3. Obergeschoss eingerichtet. Zum 1. September 1970 übernahm er die Leitung des „Städtischen Kinder- und Säuglingsheims“.

Und nun begann für mich eine 10-jährige Umbauphase vor allem des Haupttraktes, die meine Räumlichkeiten komplett veränderte. Die früheren großen Schlafräume wurden in kleine Räume umgewandelt. Es entstanden für jede Wohngruppe sanitäre Anlagen für die Kinder und für die Betreuer. Von außen mag man das ja nicht gleich erkannt haben, aber von innen wurde ich völlig verwandelt.

Die neuen pädagogischen Konzeptionen der Wohngruppen als Kleingruppen, aber auch die Entstehung von Tagesgruppen brachte eine Reduzierung der Heimplätze mit sich. Im Hauptgebäude konnte ich nur noch Raum für 62 Kinder und Jugendliche bieten, jedoch war auch der Bedarf an Plätzen zurückgegangen. Ja, und auf einmal lebten keine Säuglinge mehr, sondern Kinder, Jugendliche und sogar junge Erwachsene in meinen Räumlichkeiten. Mit dem großen Umbau in den 70er-Jahren war für mich die lange Phase der beständigen gleichen Nutzung meiner Räume für die Kinder vorbei. Nachdem nun die Räume komplett verändert und entsprechend den neuen pädagogischen Konzepten und Richtungen angepasst wurden, ist daraus, so wie ich es erlebe, ein fortwährender, ständiger Umwandlungs- bzw. Umbauprozess geworden.

Zum 1. Januar 1995 nahm die „Heimstiftung Karlsruhe“ ihren Betrieb auf und übernahm die städtischen Alten- und Pflegeheime sowie auch das Städtische Kinderheim. Und damit hieß ich nicht mehr städtisches Kinder- und Säuglingsheim, sondern wurde umbenannt in Kinder- und Jugendhilfezentrum der Heimstiftung Karlsruhe. Außer mir gibt es inzwischen noch 10 weitere Gebäude, die zu den Kinder- und Jugendhilfen der Heimstiftung Karlsruhe gehören.

1999 wurde im südlichen Trakt die Augartenschule eröffnet. Die Schule ist ein Sonderpädagogisches Bildungs- und Beratungszentrum mit dem Schwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung. Die ganzen Veränderungen hängen mit einem rechtlichen Hintergrund zusammen.

1991 kam das Kinder- und Jugendhilfegesetz. Im Gegensatz zum vorherigen Schwerpunkt der familienersetzenden Leistungen wurde nun der Fokus auf familienunterstützende und -ergänzende Hilfen gelegt. Das Konzept der lebensweltorientierten Jugendhilfe und Partizipation/Teilhabe bildeten die Schwerpunkte. In der Folge wurden ambulante Jugendhilfeleistungen ausgebaut wie z. B. die Soziale Gruppenarbeit und die Erziehung in einer Tagesgruppe. Während also früher alle Kinder in meinen Räumlichkeiten gelebt haben, kommen heute viele nur noch tagsüber und gehen am späten Nachmittag wieder zu ihren Familien.

Ich biete inzwischen auch viele Räume für Büros. Denn neben der Einrichtungsleitung gibt es inzwischen auch ein Leitungsteam, Verwaltungskräfte, mehrere Psychologen, Fachkräfte, die in der Sozialpädagogischen Familienhilfe, im Fachdienst der Bereitschaftspflege oder in der Schulkoordination arbeiten. So viele Büros gab es früher nicht! Und trotzdem sind es zu wenig.

2012 kam das Bundeskinderschutzgesetz hinzu. Hier wurden insbesondere die Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen und ihr Schutz vor Gewalt in den Fokus genommen.

Viele Gespräche finden in meinen Räumlichkeiten statt. Viel mehr als früher – auch wegen des veränderten rechtlichen Rahmens. Heute wird deutlich mehr darauf geachtet und Wert gelegt, dass die Kinder und Jugendlichen mitreden, ihre Meinung sagen, ihre Wünsche, aber auch Ängste und Befürchtungen nennen. Und viel mehr Eltern sind im Haus als früher. Auch die Eltern werden eingeladen und aufgefordert, sich im Interesse ihrer Kinder an den Hilfen zu beteiligen. Auch ihre Meinung, Wünsche und Ängste sind wichtig.

Und dann gibt es viele Gespräche, zu denen das Jugendamt bzw. der Soziale Dienst der Stadt Karlsruhe kommt. Denn die Hilfeplanung für jedes einzelne Kind erfolgt zusammen mit der Familie, dem Kind und dem Jugendamt. Und regelmäßig mindestens einmal im Jahr wird die Hilfe ausgewertet.

Es hat sich in den letzten 20 Jahren im Haus viel verändert und das wird auch so weitergehen.

Aber eines hat sich seit über 100 Jahren nicht geändert: Ich hatte stets und habe immer noch Räumlichkeiten für die Aufnahme von Kindern und Jugendlichen in Not, egal woher sie kommen, rund um die Uhr, an jedem Tag des Jahres.